Geschrieben von Rolf Winter am .

Robert Palmer: Blues & Chaos

Die Welt der Musik – Die Musik der Welt 

Robert Palmer: Blues & Chaos

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 Die reiche und breit gefächerte Aktivität namens Musik war die Welt des Journalisten und Autors Robert Palmers (*19. 6. 1945; † 20. November 1997). Die Freude an der menschlichen Beschäftigung damit, Töne zu erzeugen und damit Musik zu spielen, trieb ihn an, und er wollte verstehen, was gute Musik so wunderbar macht. Robert Palmer erforschte die Dimensionen der Musik lange und gründlich, und er war ein einflussreicher Mann, der Karrieren befördern konnte, indem er seine brillanten Artikel geschrieben hat.

Mit dem vorliegenden Buch Blues & Chaos : The Music Writing of Robert Palmer wird erstmals eine Einschätzung der breit abgestützten Interessen dieses Autors möglich, denn sein Schaffen in Form von Zeitschriftenartikel wird hier als Ganzes präsentiert. Palmer schreibt über alle Formen der Musik, von der modernen Klassik amerikanischer Komponisten bis zu Punk und Weltmusik. Seine Grundlage aber bleibt dabei stets der Blues, weshalb der Titel nicht bloss Marketing, sondern dem Inhalt des Werkes angemessen ist.

Das kurze und erfolgreiche Leben Robert Palmers lässt sich im Internet an vielen Orten nachlesen. Die Biographie bei Wikipedia ist umfassend und gut , deshalb soll hier nicht ausführlich auf das Leben Robert Palmers eingegangen werden. Nur soviel: Der Mann stammte aus einer weissen Mittelklassefamilie in Little Rock, Arkansas, und er ging nach dem Studium in seinem Heimstaat nach New York, wo er ab 1970 begann, für das Magazin Rolling Stone zu schreiben (Herausgeber Ed Ward hatte sich um ihn bemüht). Palmer verfasste Bücher und zahlreiche Artikel in den 70er Jahren und wurde zu einem solch einflussreichen Autor, dass die New York Times eigens für ihn den Posten eines «popular music head critic» schuf, eines Kritikers für Popmusik. Diesen Posten hatte er von 1981 bis 1988 inne, und er wurde zum herausragenden amerikanischen Schreiber zur Pop-Musik in dieser Zeit, und er machte von seinem Schreibtisch in der Redaktion einem breiteren Publikum solch unterschiedliche Musiker bekannt wie Otis Rush, Sun Ra oder Sonic Youth.  

1988 verliess Palmer New York und kehrte heim in den Süden, nach Mississippi und Louisiana, wo er  an Colleges unterrichtete und sich mit einer anderen schlechten Angewohnheit auseinandersetzen musste, die er aus der Welt der Musiker mitgebracht hatte: seiner Abhängigkeit von Kokain und Heroin. Dies Drogen kosteten ihn letztlich sein Leben, denn er war an Hepatitis C erkrankt und als er 1997 schwerwiegende Leberprobleme kriegte, konnte man nichts mehr tun, denn als Ex-Junkie kriegte er in den USA kein Spenderorgan. Robert Palmer starb im Alter von 52 Jahren in einem Krankenhaus ausserhalb New Yorks an Leberversagen. Damit er seiner Familie nicht auch noch riesige Arztrechnungen hinterlassen musste, haben Musiker wie Patti Smith, Allen Toussaint oder Alex Chilton Benefiz-Auftritte gespielt, um Geld für ihn zu sammeln.

Bekannt wurde Robert Palmer natürlich für Bluesfans als Autor der aussergewöhnlichen, wunderbaren und bis heute aktuellen Studie Deep Blues aus dem Jahr 1981, die auf dieser Website bereits besprochen wurde. [ Neben diesem Buch verfasste er auch zahlreiche andere Monographien. So stammen von Palmer: Jerry Lee Lewis Rocks!, The Rolling Stones und sein jüngstes Werk Rock & Roll : An Unruly History. Eine Publikation parallel zu einer zehnteiligen TV-Dokumentation, die Palmer ebenfalls massgeblich mitgestaltet hatte.

Robert Palmer war auch selbst Musiker, der die Musik spielte, die er liebte. Er war in den 60er und 70er Jahren Mitglied der avantgardistischen Band Insect Trust. Schliesslich produzierte er CDs für das Label «Fat Possum», etwa von R.L. Burnside oder Junior Kimbrough. Als Musiker, Produzent, Drogenabhängiger und Schreibkünstler war Palmer weniger ein Journalist, der die Musiker befragte als ein Partner, der wusste, was in ihnen vorgeht und der ihre Welt verstehen konnte. Gleichzeitig aber behielt er stets die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Musik im Blick und konnte in seinen Artikeln auf diese Aspekte eingehen.

Einer seiner Nachfolger bei Rolling Stone, Anthony DeCurtis, hat nun eine Anthologie seiner Interviews und Artikel zusammengestellt und diese Schriften als Buch unter dem Titel Blues & Chaos herausgebracht. Das Buch enthält Interviews oder Teile davon mit Eric Clapton, Jerry Lee Lewis und dem Kult-Autor der Beat-Generation William S. Burroughs.

Daneben enthält das Buch die wichtigsten der zahlreichen Liner Notes, also Begleittexte zur Einführung die Palmer für CD-Box-Sets verfasste. Diese umfassen solch unterschiedliche Bands und Musiker wie Led Zeppelin, Ray Charles, Bo Diddley oder Miles Davis, für dessen epochemachendes Album Kind of Blues Palmer die Liner notes der Reissue von 1997 schrieb. Aber Palmer schrieb auch die Liner Notes zum Album Einstein on the Beach des Minimalmusiker Philip Glass.

Eine ausgezeichnete Einführung in die Person des Autors und in die Texte gibt das Vorwort von Editor Anthony DeCurtis, das online unter folgendem Link zu finden ist: http://catdir.loc.gov/catdir/enhancements/fy0917/2009014346-s.html

Was enthält nun das Buch selbst? Auf 450 Seiten sammelt die Publikation über 50 Artikel des Zeitraums von 1972 bis zu seinem Todesjahr 1997. Der Grossteil der Artikel stammt aus den 90er Jahren. Die frühen Artikel konzentrieren sich auf den Jazz («Ornette Coleman and the Cirlce with a Hole in the Middle» aus Atlantic Monthly vom Dezember 1972 und «C. Mingus Ain't No Jive Bassist» aus Rolling Stone vom Januar jenes Jahres. Später erweitert sich mit seinem musikalischen Spektrum auch die Anzahl musikalische Stile, über die Palmer schrieb. So war er einer der ersten, die den Begriff der Weltmusik mitprägten. In seinem sehr hellsichtigen Artikel «The Resounding Impact of Third-World Music» setzte er sich bereits 1979 mit dem Phänomen der Weltmusik auseinander, die er als Quelle neuer Inspiration bezeichnet. Er geht zunächst auf die Geschichte ein, denn bereits Jazz-Saxophonist John Coltrane oder der Komponist Karlheinz Stockhausen liessen sich von afrikanischen Musik beeinflussen. Palmer geht es aber um die autochthonen Traditionen, die nicht Steinbruch sind für Westliche Musiker, sondern die mit ihrer eigenen Musik weltweit erfolg haben werden. Zu diesem Zeitpunkt war der jamaikanische Reggae von Musikern wie Bob Marley, Peter Tosh oder Jimmy Cliff bereits ein weltweites Phänomen, aber seine Bemerkungen passen auch auf Afropop der Machart Toure Kundas oder der Band Third World.

Wie schon angetönt, hat sich Palmer zu einer Reihe von Musikern und Stilen geäussert, und alle diese Facetten sind in diesem Buch übersichtlich und logisch geordnet. Der Autor schrieb Texte über Muddy Waters, John Lennon, Robert Pete Williams, Lightnin' Hopkins, Charles Mingus, Sun Ra, Dexter Gordon, Count Basie, Patti Smith, Sam Phillips, Yoko Ono, Elvis Costello, Lou Reed, Bo Diddley und Elvis Presley.

Für Bluesfans ist reichlich Material dabei, so schreibt Palmer auf sieben Seiten ein kleines Juwel mit dem Titel «Black Snake Moan: The History of Texas Blues», in dem Palmer der Geschichte des Boogie-Woogie ebenso nachgeht wie der speziellen Mischung musikalischer Einflüsse, denen Musiker in Texas ausgesetzt waren. Indem er für die texanische Tradition neben dem Blues französischsprachigen Cajun, spanischen Flamenco, Zydeco, Polkas und die reiche Akkordeon-Musik der deutschen und Osteuropäischen Einwanderer erwähnt, stellt er die Komplexität des Texas Blues überzeugend dar. Palmer schafft es, unter klarer Benennung der Lücken eine Kontinuität zu konstruieren zwischen Blind Lemon Jefferson, Charlie Christian, Freddie King und Willie Nelson. Dabei wirkt sein Argument logisch und nachvollziehbar, und auch wenn er viele Beispiele nennt, ist der Artikel doch kein reines Name-Dropping.

Ein anderes Highlight des Buches ist der Eröffnungstext «What is American Music?» von 1975 (aus Down Beat), gefolgt von «When is it Rock and When Rock & Roll? A Critic Ventures an Answer» von 1978 aus der New York Times. Beide Texte sind grossartig verfasste Diskussionen des Themas, die klare Unterscheidungsmerkmale nennen. Der erste Text bringt sowohl die Bluestradition als Grundlage amerikanischer Musik wie auch die moderne Klassik mit John Cage oder Charles Ives. Gerade die Freude und Leidenschaft mit der Palmer diese Traditionen in Verbindung zueinander setzt, macht den Text so lesenswert.

Sehr schön sind auch die Aspekte der Beziehungen zwischen Weissen und Schwarzen Amerikanern, die etwa in seinem Porträt des Gründers von «Sun Records» Sam Phillips zum Ausdruck kommt. Phillips, bekannt als Entdecker des «Million Dollar Quartets» Elvis Presley, Carl Perkins, Johnny Cash und Jerry Lee Lewis, wird hier in einen grösseren Zusammenhang gestellt: Phillips machte auch erste Aufnahmen von B. B. King und The Howlin Wolf.

Er schreibt über Sam Phillips Instinkt, dass dieser ein scharfes Ohr für Talente hatte, und dass er den Eindruck hatte, Presley sei, was er gesucht hatte: «Der Junge hatte etwas. Innerhalb der nächsten zwei Jahre würde dieses «etwas» RCA, CBA  und die anderen riesigen Plattenfirmen des Landes in ihren Grundfesten erschüttern. Es würde zu Anfällen wütender Reden und Schallplattenverbrennungen auf der Seite von Kirchenmännern, Politikern und Disk Jockeys führen. [Dieses «etwas» würde] einen Trenngraben ausheben zwischen den jungen Menschen und vielen der älteren Generation, und Millionen Weisser und Schwarzer Amerikaner zum ersten Mal in der Geschichte des Landes in einem sozialen Umfeld zusammenführen. Dieses «etwas»» sollte in Bosten und der Volksrepublik China verboten werden, es sollte verantwortlich gemacht werden für Unruhen und Jugendkriminalität, es sollte vom US-Senat angeklagt werden und in der öffentlichen Debatte zerrissen und verteidigt werden. Es war der Sound eines Weissen Mannes mit dem Aussehen, dem Stil und dem authentischen Gefühl für die Vitalität, die der Musik der Amerikanischen Minderheiten - Weisser Country, Schwarzer Rhythm & Blues - gemeinsam war. Es war Rock & Roll.» (S. 122).

Was diese Beschreibung des Rock'n'roll von anderen unterscheidet ist der subtile Hinweis auf das Verbot in Boston, ist der Hinweis darauf, dass nicht nur Politiker oder Kirchenleute sich gegen die Musik wehrten, sondern eben auch Disk Jockeys. Es sind die feinen Zwischentöne, die diese Beschreibung abhebt von anderen.

Seine Würdigung von Otis Rush aus dem Jahr 1982 («To Otis Rush, the Guitar is a Second Voice fort he Blues») klingt aus heutiger Sicht zwar nicht mehr so aktuell, aber seine Beschreibung der Intensität des Gitarrenspiels bleibt hochaktuell. Auch seine Artikel zu John Lennon, Yoko Ono und Paul McCartney sind heute noch gefühlvolle Einblicke in die Mechanismen, die zur Auflösung der Beatles führte. Dabei urteilt Palmer weniger, als dass er beschreibt.

Das Buch ist eine Fundgrube an grossartigen Texten, es bietet auch heute noch Neuentdeckungen und auch die alten Artikel nehmen den Leser ein mit ihrer Weitsichtigkeit und ihrem grossen Gefühl für das, worum es eigentlich immer geht: die Musik selbst, und die Welt in der sie entsteht und in der sie wirkt. Das menschliche Phänomen Musik.