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Ray Charles Twice Revisited

Ray Charles ist nicht mehr, seine Songs aber leben weiter. Jüngst haben sich Wynton Marsalis und Willie Nelson zusammen getan, um 15 brandneue Aufnahmen herauszugeben, in denen sie dem «Genius» huldigen. Dazu haben sie sich die Hilfe einer weiteren Generation geholt, indem auf der Hälfte der CD Norah Jones ihre Traumstimme einbringt. Bereits seit 2006 liegt ein Album des Brit-Blues Urgesteins The Blues Band vor. Bluesnews.ch vergleicht die zwei CDs, die mehr sind als Tribute-Einspielungen, in denen das Vorbild möglichst originalgetreu kopiert wird. Die beiden Alben erfolgt eine intensive Beschäftigung mit den Songs und es resultieren anregende Neuinterpretationen, die den ganz unterschiedlichen Charakter ein und desselben Titels hervorheben.

Auch Genies sterben, und so musste leider auch «The Genius» Ray Charles (1930–2004)diesen Planeten verlassen. Danach wurde sein Nachlass versilbert mit Alben wie Genius Loves Company oder Ray Sings Basie Swings, auf denen «Duette» digital nachgestellt wurden. Zählte seine Musik schon zu Lebzeiten zu oft und erfolgreich gecoverten Titeln, so ist klar, dass ein Oeuvre mit solch grossem Einfluss wie jenes von Ray Charles kräftig weiter rezipiert und verarbeitet wird und zu neuen Aufnahmen bekannter Titel führt. John Scofield hat das auf dem Instrumentalalbum That’s What I’d Say wunderbar vorgeführt. Nun ist Ende 2011 ein Album erschienen, auf dem Wynton Marsalis mit seiner Band aus dem «Lincoln Center» nach Eric Clapton einen weiteren Gast bei sich aufnimmt, nämlich erneut Willie Nelson, mit dem bereits die 2008er Veröffentlichung Two Men With The Blues realisiert werden konnte. Die Formel einer mehr als ausgezeichneten grossen und gut eingespielten Band mit unterschiedlichen Partnern erweist sich als künstlerisch wie auch kommerziell erfolgreich, und die Zusammenarbeit zum ersten Album scheint allen Beteiligen genügend gefallen zu haben, um erneut ein CD-Projekt zu starten: Ray Charles sollte gecovert werden, auf der passend Here We Go Again genannten Scheibe. Die Arrangements sind anscheinend von Marsalis‘ Band ausgearbeitet, Nelson spielt angeblich Gitarre war aber für meine Ohren nicht zu vernehmen.

War auf der ersten CD des Duos Marsalis & Nelson noch Ray Charles’s «Signature Track» Georgia on My Mind das einzige Cover, so gibt es auf dem aktuellen Album 12 Titel, die alle auch von Ray Charles gespielt wurden. Kompositionen von Charles sind Hallelujah I Love her So und What'd I Say. Auf sechs dieser Titel sind die beiden Herren unter sich, auf weiteren Sechs kommt Norah Jones dazu, die schon auf Genius Loves Company ihre Verehrung für Charles zum Ausdruck brachte mit ihrem «Duett» Here We Go Again. Das gibt sie hier erneut zum Besten, dazu kommen Come Rain or Come Shine, Cryin‘ Time, Hit the Road Jack, Makin‘ Whoopie und What I’d Say. Wie von solchen hochkarätigen Interpreten zu erwarten, sind die Covers anstandslos arrangiert, gespielt und abgemixt.

Vergleichbar mit dieser CD mit Coverversionen ist die 2006er Veröffentlichung Thank You Brother Ray von der Britischen Bluesformation The Blues Band, die am 4. Februar 2012 im Zürcher «Kaufleuten» auftreten. Die von beiden Formationen gespielten Titel umfassen Busted, Makin’ Whoopie, Hallelujah I Love Her So, I'm Moving On und Losing Hand. Die weiteren Titel sind den Tracklists am Schluss zu entnehmen.

Die Aufnahmen wurden gegenüber den Originalen Ray Charles so verändert, dass schon direkt die Arrangements auf Chicago-Blues verweisen. Paul Jones‘ Harmonica ist stets zu vernehmen, die Band ist klein und sie spielt enorm transparent. Es fehlen die fetten Arrangements des Originals, dadurch wirkt die Musik abgemagert, aber auch reduziert auf das Wesentliche. They’re Crazy ‘bout Me ist etwa ein fetziger Titel und zugleich ein Beispiel, wie sich Ray Charles verschlanken lässt. Was die Blues Band zudem als sicheren Wert vorweisen kann, ist der Gesang. Die unterschiedlichen Stimmen passen jeweils gut zur Musik und der Gesang kommt emotional authentisch aus den Lautsprechern.

Im Gegensatz dazu entsprechen die Arrangements bei Nelson und Marsalis mehr dem Original. Bläsersätze, Perkussion, Mehrstimmigkeit im Gesang, all diese Elemente waren auch schon bei Charles vorhanden, aber hier werden sie mit unglaublicher Leichtigkeit in den Dienst unterschiedlichster Musikstile gestellt. Für jeden Titel wurde eine passende musikalische Form gefunden, man suchte Inspiration bei der gesamten afro-lateinischen Musik. Unchain My Heart als Bolero mit Habñera-Bass ist frech, aber mehr als stimmig, Hit the Road Jack als Gospel mit Schellenring und Choir scheint fast zwangsläufig. Marsalis erfindet mit seinen Musikern Ray Charles neu und man hat den Eindruck, so hätte sich das schon immer anhören müssen — oder so habe sich das Original angehört. Erst der direkte Vergleich zeigt, was bei der Blues Band klarer ins Auge springt: Man kann sich Ray Charles nähern, indem man sich entfernt. Losing Hand ist als Chain-Gang-Klagelied beschrieben (Das Wort auf der CD ist «Dirge», eine musikalische Gattung, die ihre Bezeichnung nach dem ersten Wort der lateinischen Totenmesse trägt: «Dirige, domine deus meus…». Der Song ist eine New Orleans-Beerdigung, ohne genau so zu spielen, es ist Programmmusik, dabei voller Verehrung für die Originale, die dadurch moderne Klassiker werden.

Dagegen ist die Blues Band direkter, gradliniger, natürlich auch «bluesiger» im Sinne von musikalisch stets mit erkennbaren Formen des Blues, was auch an der makellosen Rhythmus-Gruppe und insbesondere an Bassist Gary Fletcher liegt. Der Beat ist immer spürbar. Marsalis macht seine Erkundigungen ins Land der Musik mit diesen so vertrauten Titeln und dazu kommt Willie Nelson, dessen Stimme ja zu allem und nichts passt, weil sie so einzigartig ist. Willie Nelsons Gesang etwa auf I Love You So Much it hurts treibt einem die Tränen in die Augen, so rührend ist das, aber es ist nicht eine richtige Note dabei. Der Gegensatz zum immer picobello herausgeputzten Wynton Marsalis, der glitzert und funkelt mit jedem Ton seiner Trompete, könnte grösser nicht sein und das macht diese Aufnahmen so grossartig.

Der Direktvergleich fiel unentschieden aus: Busted und Losing Hand gefiel in der Aufnahme von Marsalis und Nelson besser, bei Halleluja I Love Her So und I’m Moving On haben die Briten die Nase vorne. Und somit kommt die Entscheidung auf Makin‘ Whoopie. Das haben The Blues Band ziemlich verbockt, der Beat ist hier zu hart, was das Spöttische aus dem Song nimmt und damit die Seele. Aber was die Waage sowieso für die jazzigere Version ausschlagen lässt, das ist der Gesang der einmal mehr wunderbaren Norah Jones. Die Songs auf denen sie mittut werden noch eine Schattierung vielseitiger. Insgesamt ist die neuere Aufnahme der Amerikaner ansprechender, gefälliger und vielseitiger, aber aus der Sicht des Blues ist die CD der Blues Band vorzuziehen.

 
The Blues Band - Thank You Brother Ray (2006)
Paul Jones harp, vocals
Dave Kelley guitars
Tom McGuinness Guitar, Vocals (Background), Producer, Vocals
Gary Fletcher Bass, Vocals, Vocals (Background)

Weitere Musiker
Rob Townsend Percussion, Drums
Lou Stonebridge  Piano, Producer, Accordion
Dino Baptiste Keyboards
Geraint Watkins Piano
Hughie Flint Drums
The Paulettes Vocals (Background)
Bill Gautier Producer, Engineer, Mastering, Mixing
 
1          Sticks and Stones                                     2:37
2          I Don't Need No Doctor                            3:38
3          Busted                                                      4:14
4          Hard Times                                               2:48
5          Hallelujah I Love Her So                           4:12
6          They're Crazy 'Bout Me [Live]                   3:09
7          I'm Movin' On                                            3:20
8          Lonely Avenue                                          3:35
9          Tell Me What You Want Me to Do             5:32
10       Leave My Woman Alone                           4:22
11       Georgia on My Mind [Live]                        3:26
12       Making Whoopee                                      2:54
13       Losing Hand                                              3:31
14       Let the Good Times Roll                            3:12
 
 
Willie Nelson & Wynton Marsalis feat. Norah JonesHere We Go Again (2011)
01. Hallelujah I Love Her So (Gospel 2-Beat/Boogaloo/4/4 Swing)
02. Come Rain Or Come Shine (feat. Norah Jones) (Walking Ballad)
03. Unchain My Heart (Bolero With Habanera Bass)
04. Cryin’ Time (feat. Norah Jones) (Country Ballad)
05. Losing Hand (Dirge With Chain-Gang Shuffle)
06. Hit The Road Jack (feat. Norah Jones) (Gospel 2-Beat/4/4 Swing)
07. I’m Moving On (Boogaloo With Afro-Latin Backbeat/ 4/4 Swing)
08. Busted (Gospel 12/8 Shuffle)
09. Here We Go Again (feat. Norah Jones) (Rhythm & Blues 12/8 Shuffle)
10. Makin’ Whoopee (feat. Norah Jones) (Hard-Bop 2-Beat/ 4/4 Swing)
11. I Love You So Much (It Hurts) (Waltz)
12. What’d I Say (feat. Norah Jones) (Boogaloo)